Die Kopernikanische Wende

     versteckt von Albrecht Dürer in Melencolia I
           Wagnis einer Bildöffnung  2018


Frauenburg

Bei unserer Polenreise im September 2017 stand ich mit meiner Frau Elisabeth im Dom von Frauenburg andächtig am Grabmal des Domherren, Arztes und standhaften Astronomen Nikolaus Kopernikus (1473-1543).
Mit seiner Hypothese vom Umlauf der Erde um die Sonne beendete er das Mittelalter und revolutionierte die Denkgrundlage der Neuzeit.(1) Er zeigte den Menschen, daß der täglich gesehene Auf- und Untergang der Sonne dem Gang der Erde um die stehende Sonne entspricht. Das Wisssen um den Stillstand der zentralen Sonne gefährdete den Glauben der Erdbewohner, Mittelpunkt der Schöpfung zu sein.
1509 hatte Kopernikus Mitstudenten und Freunden eine handgeschriebene Vorschau „Commentariolus “ (2) seines erst vor seinem Tode 1543 in Nürnberg gedruckten Buches „Revolutionibus...“ (3)  überlassen. 
Ein Exemplar des „Commentariolus“ gelangte nach Nürnberg.
Das war damals eine der grössten deutschen Städte (4), kaisernah, im Zentrum weiter Handelswege, nicht nur ein Sitz reicher Kaufleute sondern auch das Zentrum des deutschen Humanismus. Astronomen nutzten frühe Druckereien für wissenschaftliche Werke. Freie, selbstbewusste Bürger fanden in Hans Sachs ihre Stimme und waren tüchtige Handwerker bei der Herstellung von Uhren, Kompassen, Instrumenten zur Himmelsbeobachtung, Globen, Weltkarten und der „Eisernen Hand“ des Götz von Berlichingen.
Von „Commentariolus“ erfuhr der berühmteste Bürger der Stadt, Albrecht Dürer. Der 43-jährige Grafiker, Maler, Drucker und Verleger war auch ein herausragender Mathematiker (5), damit nahe der Astronomie.
Er verstand die kopernikanische Revolution und verbildlichte sie 1514 im Kupferstich „Melencolia I.“

Nürnberg

Im August 2018 besuchte ich sein über 500 Jahre altes Haus in Nürnberg, das Museum Dürer-Haus.
Ich suchte Zeichen des Geistes der Zeit, der die Wege großer Astronomen und Albrecht Dürers  sich kreuzen ließ.
Den Gedankengang des Nikolaus Kopernikus zur Revolution der Astronomie bahnten dessen Lehrer Georg Von Peuerbach 1423-1461 (6), Johannes Müller (Regiomontanus) 1436-1476 (7), Bernhard Walter 1430-1504 (8), Domenico Maria de Novara 1454-1504 (9).
 Albrecht Dürer verbildlichte die Hypothese des Kopernikus in seinem 1409 gekauften Nürnberger Haus, nahebei hatten Johannes Müller und Bernhard Walter den Sternenhimmel beobachtet.  So kam zur astronomischen Revolution der Weltsicht ein einzigartiges Kunstwerk, Dürers Kupferstich Melencolia I.
Einige Stunden verblieb ich im ehrwürdigen Museum, besuchte die Zimmer  mit vielen Bildern und Buchdruckern, fand auch die geheime Kammer, aber Dürer traf ich nicht.
Gern hätte ich ihm einige Fragen gestellt:
-Warum hat er seinen Kupferstich Melencolia I nie kommentiert? (10,11)
-Wie wurde seine Arbeit 1514 am Holzschnitt „Himmelskarten“ für den Kaiser Maximilian, in Zusammenarbeit mit dem Historiographen und Kartographen Johannes Stabius (1468-1522) und dem Astronomen Conrad Heinvogel (1467-1537), von der  heliozentrischen Hypothese  in Melencolia I beeinflusst?(12)
Die hier vorgelegte Interpretation würde bestätigt, wenn auch in den Himmelskarten das schon vorhandene heliozentrische Wissen Dürers nachgewiesen werden könnte. Was sagen die teilweise von der Erde weggedrehten Köpfe der Sternzeichen?
Woher kannte Dürer „Commentariolus“, von dem es  nur  Abschriften gab? (13)

Der belesene und neugierige Dürer hatte in seiner herausgehobenen und büchernahen Position in Nürnberg (14), auch im Kontakt mit kaiserlichen Astronomen, führenden deutschen Humanisten sowie im eigenen „astronomischen Haus“, genügend sehr gute Quellen, die ein Kennenlernen des „Commentariolus“ wahrscheinlich machten.
Dürers Kupferstich Melencolia I von 1514 ist das erste Bild  zum kopernikanischen Heliozentrismus. Kopernikus` „Revolutiones“ wurde erst 1543 1000-mal in Nürnberg gedruckt, mit einem verharmlosenden Vorwort des Geistlichen Osiander und gegen den starken Widerstand Martin Luthers und Philipp Melanchtons. Von der katholischen Kirche spät in seiner Aussage erkannt, stand es erst ab 1615 -1822 auf dem römischen „Index librorum prohibitorum“.
Lange Zeit herrschte sogar die Meinung, Kopernikus habe nicht wirklich an seine heliozentrische Hypothese geglaubt. Erst das Fernrohr mit der dadurch sichtbaren Umkreisung der Planeten Saturn und Jupiter durch Monde lieferte Betätigungen für den Heliozentrismus.
Ich hätte den lebenslustigen Dürer gern befragt wegen seiner fröhliche Mitgliedschaft in der Nürnberger  Herrentrinkstube (15).
Er hätte mir erklären können, dass die Herrentrinkstube nur von ausgewählten Bürgern besucht werden durfte und dass die ehrenwertesten und verdientesten Nürnberger sich dort fgeselig trafen. Er war auch Genannter des Größeren Rats. Immerhin habe er, der Grafiker, Maler und Mathematiker ohne Studium damit zur Spitze der Nürnberger Bürger gezählt obwohl er nur schlecht Lateinisch sprechen konnte. Niemals wäre er aus Nürnberg weggezogen. (18)
Vielleicht hätte er auch von seinem reichen Freund und Mäzen, dem Juristen W. Pickelheimer, Ratsherr und kaiserlicher Rat,  und dessen großer und wachsender Bibliothek erzählt und von seinem fördernden Paten, dem großen Buchdrucker Koburger. 
Ich hätte ihm gern berichtet, Melencolia I  sei als großes Kunstwerk weltweit erkannt, aber sogar die Gedanken  unzähliger kluger Betrachter habe eine Gesamtbeurteilung bis heute nicht ergeben – weil  er  geschwiegen habe.


Bildbetrachtung

Die  Betrachtung des zunächst verwirrenden Kupferstichs „Melencolia I“ empfehle ich  durch Aufteilung des Bildes in die Szenen „Reale Welt“, „Allegorie mit Selbstbildnis“ und „Wissensphantasie“ zu vereinfachen.

Reale Welt 
zeigt die Wand des Turmes, behängt mit Gebrauchsgegenständen. Auffällig ist das versenkte Zahlenquadrat.  Andere Teile sind Glocke mit Schatten der Zugleine von hinten rechts, Sanduhr und Sonnenuhr mit Schatten von hinten rechts, Waage, Instrumente und zahlreiche Geräte.
Bedeutung der Realen Welt
Die Totenglocke mag  an den Tod der Mutter 1514 erinnern, die bis dahin  im Haushalt Dürers gelebt hatte. Dürer belegt diese und auch die anderen Szenen realistisch mit Einzelteilen und Werkzeugen, die, ikonographisch ergraut oder erloschen, das Auge und die Gedanken fesseln, dabei  die Gesamtaussage vernebeln.
Jedoch: Das in die Wand versenkte und Agrippa von Nettesheim entnommene Zahlenquadrat enthält von Dürer eingebrachte erkennbar überschrieben Zahlen, so als hätte er falsche Eintragungen verbessert. Als Tafel-Material entfallen daher Gußeisen, Holz, Gestein. Aber  Kupfer könnte die bearbeiteten Zahlen durchschimmern lassen. Damit stößt  Dürer den Betrachter auf Nikolaus Kopernikus, den Sohn eines Kupferhändlers. Genau am Ende des "Commentariolus" (16) von Nikolaus Kopernikus aus 1509 finden wir die Summenzahl 34. Es ist die Zahl der von der Erde zu beobachtenden Planetenbahnen, die  aus einer grösserer Menge übrig bleiben, wenn man von der Umkreisung der Sonne durch die Erde ausgeht. Die waagerechte, senkrechte und diagonale Addition der Zahlen im Quadrat ergibt 34, diese entspricht  also der revolutionären Hypothese des N. Kopernikus, die Erde und die anderen Planeten umkreisten die Sonne. 1543 hat er kurz vor seinem Tode in dem in Nürnberg gedruckten umfangreichen Buch "Revolutionibus ..." die weitergehende Begründung gegeben. Die reale Welt in "Melencolia I" weist  also auf die Hypothese des Nikolaus Kopernikus, verziffert durch die  Zahl 34. Diese ist der Schlüssel zur Pforte des dürerschen Erzählgartens um Melencolia I. Wir haben die Blumen im Garten der Astronomie zu suchen.

Die Hypothese des Kopernikus vom Heliozentrismus ist Dürer´s Thema im Kupferstich Melencolia I, der als künstlerischer Startpunkt der Neuzeit und ihrer auch die Astronomie umfassenden Naturwissenchenschaft im Gegensatz zur damals populären okulten Philosophie bei sich auflösenden geistlichen Haltepunkten  gesehen werden kann. Dürer erkannte diese Zeitenwende. Das Agrippa von Nettesheim (1486-1530) entnommene magisch anmutende Zahlenquadrat war die Locktrommel, mit der Dürer die okkultistische Lebenshilfe erwartenden Betrachter zur Pforte der Melencolia I und damit zur Zahl 34 der wissenschaftlichen Astronomie wegführte. Agrippa von Nettesheim , der  in Köln geborene unstete und in ganz Europa umherziehende  Denker trat als Theologe, Philosoph, Jurist, Astrologe und Arzt auf. Er verkehrte häufig mit bekannten Humanisten . Das Sammeln allen magischen Wissens war sein Verdienst und Fluch zugleich, denn stetes Wühlen und unerlässliches Suchen behinderten seine eigenen Werke. Sein Ziel war es, die »alte Magie«, vom Unrat gereinigt, aus dem vermeintlichen Sumpf herauf zu führen. Er realisierte dies, indem er den Neoplatonismus, die Hermetik, die Kabbalah, die Magie, den Okkultismus sowie die lullische Kunst miteinander verknüpfte und gesammelt in seinem bekanntesten Werk, der De Occulta Philosophia, nieder schrieb.  Es entstand als erste ihrer Art eine wissenschaftliche Zusammenstellung, die das magische Wissen der Zeit systematisierte und auch zu belegen versuchte. Zumindest teilweise griff Agrippa mit seinen Überlegungen von einem Gott, der alles Seiende als Idee beinhalte, die neoplatonische Philosophie des 17. Jahrhunderts vorweg.Mueller-Jancke, W.-D.: »Johannes Trithemius und Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim«,
in: »Johannes Trithemius: Humanismus und Magie im vorreformatorischen Deutschland«, Hrsg.: R. Auernheimer & F. Baron (Bad Kreuznacher Symposien 1), S. 29-37, München, 1991 [erschienen 1992]

Agrippa von Nettesheim kannte auch den Nürnberger Humanisten Willibald Pirckheimer, über dessen Bibliothek wohl schon 1510 eine Abschrift der  "De Occulta philosophia" an den befreundeten Dürer gelangte. Agrippa von Nettesheim dachte fern der dürernahen Astronomie und  Geometrie, daher war ihm auch die sich entwickelnde Naturwissenschaft fremd. "De occulta philososophia" (1540 gedruckt) bietet Lebenshilfe auch durch übernommene magische astrologische Quadrate. Eines davon verfälschte Dürer wegen der aus dem kopernikanischen Commentariolus stammenden Zahl 34 zum astronomischen Zahlenquadrat in Melencolia I. Dürer wählte hinter dieser Pforte den Weg zur Astronomie, vom astrologisch-okkultischen Weg  des Agrippa von Nettesheim wegführend.
Dürer vereint in Melencolia I Inhalte bis dahin ungedruckter Bücher des Nikolaus Kopernikus und des Agrippa von Nettesheim. Er verbildlicht den Weg der Humanisten durch die Astronomie in die Naturwissenschaften. Der Kupferstich Melencolia I ist künstlerisch herausragend, zeigt auch Dürers Wissen und genial vorausschauendes Denken zu Beginn der Renaissance und hat dadurch besondere geistesgeschichtliche Bedeutung.
Allegorie mit Selbstbildnis zeigt  zwei Engel, vom Geist beflügelte Menschen, als Mittler zum Schöpfer.
Der Knabe schaut mißmutig mit gesenkten  Augen auf eine Tafel in seinem Schoß, auf diese zeigt ein Griffel in seiner rechten Hand. Er sitzt auf einem alten an die Wand gelehnten Mühlrad. Sein Sitz ist durch eine gefaltene Decke gepolstert. Sein rechter Flügel ist durch die nahe linke Leiterbahn verdeckt.
Dazu sehen wir eine große, linksseitig von der Sonne beschienene kräftige beflügelte Figur, die nachdenklich den Kopf auf die zur Faust geballte linke Hand stützt und den Blick nach oben  ungezielt ins Weite richtet. Auf ihrem Schoß  liegt ein verschlossenes Buch, in der rechten Hand führt sie einen Zirkel an einem Schenkel, der mit dem zweiten einen Keil ergibt, der wiederum auf das Gesicht des beflügelten Knaben zeigt.
Die geflügelte große Figur  hat maskuline Arme, einen kräftigen Rumpf, eine feminine Bekleidung, einen freundlichen,  nachdenklich lächelnden Gesichtsausdruck ohne Zeichen von Alter, Sorgen, Laster, Ärger oder Geschlecht. Der Kopf ist bekränzt. An der Seite hängen Schlüsselbund und Geldbörse.

Bedeutung Allegorie mit Selbstbildnis:

Wir sind in der Astronomie und sehen, allegorisch dargestellt, wie bei einem Menschen mit im Alter zunehmendem Wissen sich die Beurteilung einer Anschauung wandelt.
Das beflügelte Kind schaut missmutig nach unten auf eine Tafel, auf die auch der
Griffel in seiner rechten Hand weist. Kindliche  Geisteskraft  reicht nicht, um aus der Datenmenge dort  zu lernen. Bei wiederkehrenden Nächten der Erde ist die Masse der dabei von Astronomen beobachteten Daten ebenso unerkennbar verfremdet wie das Getreide nach dem Passsieren der  Mühle.
Der Zirkelpfeil weist den Knaben als kleiner und jünger als den großen Flügelträger und
hier wird von Dürer der liegende Zirkel erstmals als ein Vergleichszeichen eingesetzt.(17)
Der erwachsene Flügelträger ist geschlechtslos gekleidet wie ein Engel. Zeichen der gelassenen Nachdenklichkeit und ein eher freundlich lächelndes Gesicht sprechen gegen eine Verkörperug der Melancholie, bei der es sich nach Aristoteles und Ficino um die häufige vorübergehenden Missstimmung führender Menschen angesichts ihrer nur zeitweise erkannten eingeschränkten Denkfähigkeit handelt.(22)
Die Ehrenkrone zeigt Ruhm, der Schlüsselbund Macht, die Geldbörse Reichtum, das verschlossene Buch im Schoß erworbenes Wissen.
Hier stellt Dürer sich selbst dar, sein hohes Selbstgefühl ist auch seinen zahlreichen Selbstbildnissen zu entnehmen.
Wohin geht der bei weiten Augen ins Weite nach oben gehende Blick?
Welches ist das innere Bild Dürers, der lächelnd in den Tag träumt?
Der Knabe beschreibt seine Vergangenheit, die durch kindliche  Uneinsichtigkeit gekennzeichnet ist.  Dem älteren waren die Überlegungen wie die des Kopernikus schon vorher bekannt.  Der am ptolemäischen Weltbild zweifelnde, jung gestorbene Johannes Müller – Regio Montanus (1436-1476) war mit seinem erahnten Heliozentrismus in Nürnberg schon 40 Jahre vorher der Revolution nahe..
Trübe Melancholie läßt der Titel bei einer der dargestellten Figuren erwarten, man findet sie aber weder beim Knaben noch in Dürers Selbstbildnis.
Beide sind nicht melancholisch: Der erfahrene Dürer lächelt, der Knabe ist nur kenntnis- und  lustlos.

Die Wissensphantasie

umfasst keilförmig die linke Bildseite zwischen einer blanken Kugel am unteren und einem Bogen am oberen Bildrand. Über der Kugel liegt ein schlafender Hund.
Über diesem steht ein Polyeder. Dicht neben ihm steht eine Leiter. Ihr linker Schenkel ist bis zum Boden sichtbar und verläuft dicht am Knaben vorbei,
dessen rechten Flügel deckend. Der rechte Leiterschenkel ist zum Boden hin vom Polyeder verdeckt. Er muss, der Perspektive folgend, gegenüber dem linken Leiterschenkel in Richtung Bildhintergrund verschoben sein. Die Leiter hat sieben Sprossen.
Oberhalb des an seiner Oberfläche mit einer Schattenfigur belegten Polyeders erstreckt sich eine besegelte
Meereslandschaft, die Ufer sind besiedelt. Über dieser Meereslandschaft steht exzentrisch nach rechts verschoben ein strahlender Stern. Er leuchtet und lässt Bäume der Meereslandschaft Schatten werfen. Über diesem Stern wölbt sich ein Bogen.

Was bedeutet Dürers Wissensphantasie?

Der Kupferstich Melencolia I wird von zwei Sonnen beschienen. Die erste scheint hinter dem Betrachter von rechts und lässt die Glockenleine und die Sonnenuhr Schatten werfen.  Die zweite Lichtquelle ist die Sonne über der Meereslandschaft, in der Wissensphantasie als strahlender Stern wie ein geschweifter, in Dürers Zeit Unheil ankündigender Meteor getarnt, der die Bäume auf einer Halbinsel Schatten werfen lässt.
Dürer  zeigt hier sein geistiges inneres Bild, seine aus dem  „Commentariolus“ von Kopernikus  abgeleitete Weltsicht mit der Sonne als dem Zentrum der Erd- und Planetenbewegungen.
Dieser kopernikanische Heliozentrismus war revolutionär  und widersprach der Wissens- und Glaubensnorm der Kirche, der Humanisten und überhaupt aller Gläubigen.
Dürer wollte das Bild unklar lassen, wie auch Kopernikus seine Hypothese nur im „Commentariolus“ niedergelegt und den Druck des Buches bis zu seinem Tode verzögert hatte. Erkennbare Erde und Sonne hätten Dürers  Bild sogleich enttarnt. So wurde die Erde eine Kugel ohne Oberfläche und die Sonne  ein lichtspendender strahlender Stern.
Der Bogen über dem Stern  entspricht der Umlaufbahn der Erde und der Planeten.
Im „Commentariolus“ lautet es: „Der Mittelpunkt der Himmelskreise oder Kugeln ist nicht ein Einziger“. Also kann der exzentrische Stand des Fixsterns unter dem Umlaufbogen einer Bahnfigur der Planeten entsprechen.
Der Hund vertritt die geistlose Flora und Fauna der Erde.

Der von Dürer mit Zirkel und Lineal konstruierte Polyeder aus 6 unregelmäßigen Fünfecken und zwei gegenüberliegenden
Dreiecken als  Basis und Kuppe, bei dem  alle  Kanten  auf einer Umkugel stehen, ist
-die geometrische Konstruktion eines Modells des Sonnensystems mit 6 Planeten, und exakt geplant so in den Kupferstichs eingepasst, wie es die naturwissenschaftlichen Regeln der Perspektive verlangen, die damit die Glaubwürdigkeit der Hypothese erhöhen,
-und der Repräsentant der Logik, Geometrie und Mathematik im Leben des Menschen. Die Geometrie als Element logischen menschlichen Denkens diente 1492 der Navigation bei der Ersegelung der neuen Welt durch Kolumbus, im Kupferstich ist dies als Meereslandschaft dargestellt. Kolumbus hatte  Ephemeriden von Johannes Müller  an Bord (18).
Dürer hat antike Mathematiker studiert, mathematisch-
geometrische Bücher geschrieben. Er war nicht nur ein großer Maler, sondern auch ein herausragender und berühmter Mathematiker, der nach Regeln zur  Darstellung des Schönen suchte (21).
Mehr als hundert Jahre später, 1623, bestätigte Galileo Galilei (1564-1641) Dürers Gedanken: „Die Philosophie steht in diesem großen Buch geschrieben, dem Universum, das unserem Blick ständig offen liegt. Aber das Buch ist nicht zu verstehen, wenn man nicht zuvor die Sprache erlernt und sich mit den Buchstaben vertraut gemacht hat, in denen es geschrieben ist. Es ist in der Sprache der Mathematik geschrieben, und deren Buchstaben sind Kreise, Dreiecke und andere geometrische Figuren, ohne die es den Menschen unmöglich ist, ein einziges Wort davon zu verstehen; ohne diese irrt man in einem dunklen Labyrinth herum.“ (19)
Der dürersche Polyeder zeigt unser Sonnensystem auf der Grundlage logisch-mathematischen Wissens zur Zeit des Kopernikus 1509. Die Idee des Bildes entspricht Galileo Galileis später formulierten Bedingungen, aber bei der Beurteilung der Ausführung ist zu berücksichtigen, daß
1. Kopernikus bis zur Veröffentlichung seines Buches (1543) zu Änderungen gegenüber „Commentariolus“ kam,
2.  das Fernrohr noch nicht erfunden war (Hans Lipperhey 1608, Galileo Galilei 1564-1642), und daher nicht alle Planeten sichtbar waren,
3. Johannes Keplers (1571-1630) Gesetze, nach denen sich die Planeten um die Sonne bewegen, noch fehlten,
4.  Isaac Newton (1643-1726) mit  seinen Gravitationsgesetzen die Bewegungsgesetze als Grundlage der klassischen Mechanik noch nicht gelegt hatte.

Somit traf  Dürers Verbildlichung des kopernikanischen Heliozentrismus bald nach seinem Tode 1528 ungenau den zunehmenden Kenntnisstand der Astronomen, wobei aber das von Kopernikus geweckte Bewusstsein des Erdumlaufs und die Forderung, Wissenschaft zur Prüfung des Gesehenen einzusetzen, gefestigt wurde.
Den  bleibenden Fortschritt im Wissen  der Menschen, Teil des planetarischen Sonnenumlaufs zu sein, hat Dürer ins Bild gebracht.
Die Reaktion der Leser auf den „Commentariolus..“ war zurückhaltend und ablehnend. Das blieb auch Dürer in seinem Nürnberger humanistischen Zentrum nicht verborgen. Kopernikus zögerte,
trotz des Drängens seiner Schüler, bis er, über Jahre „De revolutionibus...“ mit neuen Einsichten  verbessernd, erst 1543 den Druck erlaubte. Bis dahin publizierte er seine astronomischen Erkenntnisse nicht mehr. Dürer war schon 16
Jahre vorher verstorben und hatte sich des Themas nicht mehr angenommen. Bei allgemeiner Zustimmung zur  kopernikanischen Hypothese  hätte er „Melancolia I“ leicht enttarnen können. Damit wäre er zum Kämpfer für ein neues Weltbild geworden. Hatte Dürer erkannt, daß seine wissenschaftliche Vision dem Zeitgeist  noch nicht entsprach?
 
Die neben dem Polyeder stehende Leiter lehnt nicht am Turm sondern zieht an diesem vorbei in den Sternenhimmel. Die Verdeckung des rechten Knabenflügels durch die linke Leiterbahn und die Basiswerte des Leitergrundes unter Berücksichtigung der Perspektive des Dürerschen Polyeders bestimmen den Leiterverlauf. Sie ist eine 7-sprossige Jacobsleiter, die Wissende näher zu Gott führt. Mit der Anerkennung des Heliozentrismus wendet sich Dürer nicht gegen seinen  Glauben. Die Leiter zeigt seine Frömmigkeit und seinen Willen, mit ihr, an die Logik gelehnt, näher zu Gott zu kommen.



Melencolia I-Melecoley
Anarmorphose, Stundenglas

Melencolia I steht auf einem entfalteten  Fabeltierbalg.
Die Buchstaben des Titels sind vom M an nach rechts zunehmend vergrößert dargestellt und nähern sich dem strahlenden  Stern.
Der Fabeltierbalg mit dem Titel liegt nahe dem strahlenden Stern, der maskierten Sonne, die einem geschweiften Kometen als Zeichen nahenden Unheils entspricht.
Mit der Schrift des Titels fordert Dürer den Betrachter auf, seine Position zum Bild zu ändern. Dann ergibt sich von der linken Bildseits her gesehen eine Höhenangleichung der Titelbuchstaben. Aus dieser Position zeigt die Oberfläche des Polyeders, in einer die Perspektive nutzenden Anamorphose
(nach Leonardo da Vinci und vor Holbein), die Konturen eines Menschenschädels(10).
Dieser Kupferstich zeigt auch ein Stundenglas. Auch die beiden anderen Meisterstiche („Ritter, Tod und Teufel“, „Hieronymus im Gehäus“) enthalten Stundenglas und  Menschenschädel und können als Ruf Dürers nach dem Tod der von ihm bis zum  Ende gehüteten Mutter gelten: „Mein Leben geht zu Ende, ich habe den Tod gesehen.“

Am Ende suchen wir die mit dem Titel suggerierte Melancholie. Dürers Selbstbild  lächelt und erscheint nicht in gedrückter Stimmung.
Melancholie ist in diesem Kupferstich nicht an die Missstimmung einzelner Menschen gebunden, mit „Melencolia I“ soll eine Ähnlichkeit zur Melancholie vorgetäuscht werden. In den Entwürfen zum „Lehrbuch der Malerei“ heißt es „...daß der Knab in Lust zu lernen behalten werd und ihn nit urtützig mach. Das sechst, ob sich der Jung zu viel übte, dovan ihm die Melecolei überhand mocht nehmen, daß er durch kurzwelig
Saitenspiel zu lehnen dovon gezogen werd zur Ergesetzlichkeit seines Geblüts“ (23)
„Melecoley“ ist also Dürers Wort für die melancholische Verstimmung eines Menschen.

„Melencolia I“ beschreibt dagegen eine Verstimmung der Philosophen wegen des Verlustes der Erdposition als Zentrum des Sonnensystems und fragt (Ignorant- unwissend) nach der Stellung des Menschen in der Schöpfung. Dürer  stellt die von der Kirche und der Gesellschaft abgelehnte neue kopernikanische Weltsicht zu Beginn der Neuzeit mit überragender Kunst dar, mit Bekenntnis zur Naturwissenschaft  und
lächelt über seine lange Irreführung der Betrachter.

Wissenschaftliches Prüfen des Gesehenen

Durch Wissen wird der täglich von jedem gesehene Geozentrismus zum Heliozentrismus.
Die durch die Astronomie bestätigte Weisheit, das Gesehene erst wissend zu prüfen, gilt auch für den  Kupferstich „Melencolia I“ Vielfach erweckt das Bild Eindrücke, die dem Wissen nicht standhalten. Wissend wird aus dem Zahlenviereck, dem „magischen Quadrat“ eine Botschaft des Kopernikus, aus der Allegorie der Engel das Selbstbildnis Dürers mit Bildungsgeschichte, aus der blanken Kugel die Erde, aus dem schlafenden Hund die unwissende Fauna und Flora, aus dem Polyeder die Logik und Geometrie im Menschen, aus dem strahlenden Stern die Sonne, aus dem „Regenbogen“ die Umlaufbahn der Planeten, aus der Seelandschaft die Erforschung der Erde mit Hilfe der Geometrie und Astronomie, aus der „Leiter zum Turm“ die Leiter des Wissens zu Gott, aus dem Vertreiben der Erde aus dem  Zentrum des Sonnensystems die Sorge um die Stellung des Menschen in der Schöpfung.


Literatur:
1(Copernicus, Nicolaus: Das neue Weltbild: 3 Texte; lateinisch-deutsch. Übers., hrsg. u. mit e.Einl. u. Anm. vers. Von Hans Günter Zekl. Im Anh. e. Ausw. aus d. Narratio prima des G.J.Rheticus. - Hamburg: Meiner 1990)
2 Darin S 3: Nicolaua Copernicus: Kurze Abhandlung über die Erklärungsgrundlagen der Bewegungen am Himmel von ihm selbst aufgestellt. 
3 Darin S. 59: Nicolaus Copernicus: Über die Umläufe der Himmelskreise (Buch 1)
4 Anja Grebe: Albrecht Dürer Darmstadt 2013: S.10
5 darin S. 157
6 Aschbach J. Die Wiener Universität und ihre Humanisten im Zeitalter Kaiser Maximilian I. Geschichte der Wiener Universität 2. Wien: Braumüller, 1877
7 Günther, „Regiomontanus, Johannes“ in : Allgemeine deutsche Biographie 22 (1985) S. 564-581
8 Gaab, Hans: Ein Zeitgenosse Martin Behaims: Der Kaufmann Bernhard Walter (1430-1504), Liebhaberastronom und Vorbesitzer des Albrecht-Dürer-Hauses. Norica 3(Juli2007), S. 69-77
9 Witt, Volker: Die historische Sternwarte „La Specola“ in Bologna. In: Sterne und Weltraum. Bd. 44, Nr. 1, 2005, S 76-81
10 Anja Grebe: Albrecht Dürer Darmstadt 2013: S.121,122
11 Schauerte, Th.: Dürer. Das ferne Genie. Stuttgart 2012. S. 182.
12 Gaab, Hans: Die Sterne über Nürnberg. Albrecht Dürer und seine Himmelskarten von 1515. Hrsg.:Nürnberger Astronomische Gesellschaft. Petersberg 2015
13 Copernicus, Nicolaus: Das neue Weltbild: 3 Texte; lateinisch-deutsch. Übers., hrsg. u. mit e.Einl. u. Anm. vers. von Hans Günter Zekl. Im Anh. e. Ausw. aus d. Narratio prima des G.J.Rheticus. - Hamburg: Meiner 1990 S.XLI
14 Schauerte, Th.: Dürer. Das ferne Genie. Stuttgart 2012. S. 125-143.
15 Just, Renate: Dandy vor Fachwerk. DIE ZEIT Nr. 21/2012
16 Copernicus, Nicolaus: Das neue Weltbild: 3 Texte; lateinisch-deutsch. Übers., hrsg. u. mit e. Einl. u. Anm. vers.
von Hans Günter Zekl. Im Anh. e. Ausw. aus d. Narratio prima des G.J.Rheticus. - Hamburg: Meiner 1990 S. 35
17 Thomas Harriot. Wikipedia 2018
18 Endres, Rudolf: Der Beitrag Nürnbergs an der Entdeckung Amerikas. Mitteilungen der Fränkischen Geographischen Gesellschaft Bd 40, 1993 S.19-40
19 Galileo Galilei: Sidereus Nuncius. Nachricht von neuen Sternen. Herausgegeben und eingeleitet von Hans Blumenberg. Frankfurt am Main 1980
21Schauerte, Th.: Dürer. Das ferne Genie. Stuttgart 2012. S. 242-259
22 Klibansky, R., Panowsky, E., Saxl, F.:Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und Kunst. Frankfurt 1990, S. 59-76
23 Albrecht Dürer: Schriften und Briefe. Herausgegeben von Ernst Ulmann. Reclam Leipzig 1978. S.142


Mueller-Jancke, W.-D.: »Johannes Trithemius und Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim«,
in: »Johannes Trithemius: Humanismus und Magie im vorreformatorischen Deutschland«, Hrsg.: R. Auernheimer & F. Baron (Bad Kreuznacher Symposien 1), S. 29-37, München, 1991 [erschienen 1992] Agrippa von Nettesheim